An Herrn Staatssekretär Matthias Richter
Ministerium für Schule und Bildung
Düsseldorf

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Richter!

Die Corona-Pandemie hat uns allen den Wert des Präsenzunterrichts klar gemacht. Der Weg dorthin zurück ist Aufgabe für uns alle mit Schule Befassten, und die nordrhein-westfälischen Landesverbände des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV), der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer e.V. (VdF) und des Deutschen Spanischlehrerverbandes (DSV) möchten auch ihren Beitrag leisten. Es ist uns auch bewusst, dass mit der Schulmail vom 05.03. ein Versuch gemacht wurde, Familien zu entlasten und Bildung wieder langsam zu ermöglichen unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes. Doch bleiben augenscheinlich bei dieser Grundentscheidung des Schulministeriums wichtige Belange der Zweiten und Dritten Fremdsprache unberücksichtigt oder zumindest gefährlich unterbewertet.

Deswegen möchten wir auf ein großes Problem aufmerksam machen, zu dem uns zahlreiche Zuschriften aus dem gesamten Land erreichen und dessen Beseitigung für die Zeit nach den Osterferien organisatorisch unbedingt geleistet werden muss: In der Schulmail vom Freitag, dem 05.03.2021, steht explizit, dass eine „Durchmischung im Rahmen der äußeren Differenzierung, im Wahlpflichtbereich sowie im Unterricht der zweiten Fremdsprache vermieden“ werden soll. Die Zweiten und Dritten Fremdsprachen werden nur in ganz wenigen Ausnahmen im Klassenverband unterrichtet. Dadurch haben die Schulleiter*innen und Fachlehrkräfte fast keinen Spielraum mehr, in diesen Fächern digital oder analog Unterricht zu erteilen. De facto besteht im Moment an vielen Schulen die absurde Situation, dass in den zumeist gemischten Lerngruppen in bis zu sechs unterschiedlichen Räumen Teilgruppen der Schüler*innen sitzen, gemeinsam mit den anderen Fächern, die von den Sprachlehrkräften lediglich mit Aufgaben zur Einzelarbeit versorgt werden können, was eine echte Unterrichtsbegegnung unmöglich macht und auch deutlich hinter den Distanzunterricht zurückfällt.

Wir brauchen zum Spracherwerb (vor allem zur Schulung der Mündlichkeit oder zur Einführung neuer Grammatik sowie zum Besprechen der Arbeitsergebnisse) unbedingt den regelmäßigen Unterricht in der Lerngruppe, zumal sehr viele wichtige Elemente eines modernen Sprachunterrichts, wie Austausche und kulturelle Begegnungssituationen, aktuell bereits wegfallen müssen. Aufgaben im Wechsel mit dialogischem Unterricht funktionieren, nicht aber Aufgaben ohne gemeinsame Einführung und Besprechung. Es geht uns jetzt nicht um die 6-8 Unterrichtsstunden vor den Osterferien. Die Problematik darf aber keinesfalls nach den Osterferien fortbestehen.

Es handelt sich um die Zweiten und Dritten Fremdsprachen als Hauptfächer, die einen erheblichen Teil zur Denkentwicklung der Schüler*innen beitragen und in denen sie die Chance erhalten müssen, die Sprachqualifikationen, die sie später für verschiedene Studienrichtungen benötigen, auch zu erwerben. Durch das apodiktische Gebot fester Lerngruppen über die Osterferien hinaus ohne alternative Lösungen könnten Schullaufbahnen gefährdet sein. Es fehlt allen Beteiligten eine Bewertungsgrundlage z. B. von Schüler*innen, die sich allem leicht entziehen können. Dadurch drohen Widersprüche. Die fortlaufende Belegung einer zweiten Fremdsprache ist außerdem Abiturbedingung. Schüler*innen müssen die Wahl haben können, statt in der Oberstufe wieder eine neue Fremdsprache bis zum Abitur anzuwählen, guten Gewissens die zweite oder dritte Fremdsprache fortlaufend zu belegen. Wir machen hier auch darauf aufmerksam, dass die Schulform Gymnasium sich von den anderen Schulformen durch die Möglichkeit, mehrere Fremdsprachen erwerben zu können, wesentlich unterscheidet. 

Wir möchten Sie daher bitten, über Alternativen nachzudenken, die den Schulen Handlungsspielräume zulassen. Natürlich ist uns allen ein umfassender Infektionsschutz wichtig, gerade deshalb sind hier Hilfen und Hinweise für Schulleitungen und Lehrkräfte notwendig. Daher ist es sehr wichtig, die Aufmerksamkeit der Schulleitungen in der Schulmail auf dieses Problem zu richten und einzufordern, dass die Lösung an der Schule mit den Fachschaften der zweiten und dritten Fremdsprachen abgeklärt werden. Auch eine Übersicht über Best practice-Beispiele von Schulen wäre hilfreich. Wenn die Stunden der Wahlpflichtfächer z. B. in den Randstunden liegen, könnten diese auch nachmittags als Videokonferenzen für die dann ungeteilte Lerngruppe abgehalten werden. Für den Bildungserfolg in den Fremdsprachen wäre es auf jeden Fall besser, weiterhin Distanzunterricht als gar keinen realen Unterricht zu erhalten. Aufgaben in Einzelarbeit erfüllen dies nicht. Auch das jetzige Verbot der klassenübergreifenden Gruppenmischungen könnte nach den Osterferien analog den Regelungen in der Oberstufe aufgehoben (wie in anderen Bundesländern, z. B. Rheinland-Pfalz) und mit regelmäßigen Testungen begleitet werden, so es das Infektionsgeschehen erlaubt.

Die NRW-Landesverbände des DAV, der VdF und des DSV sind in Sorge um die Lernerfolge von zahlreichen Schüler*innen, die ein Hauptfach zu absolvieren haben und denen ein ebenso valider wie praktikabler Unterricht zusteht. Es ist wichtig und dringend, dass die bisherige Lösung eine Ablösung braucht. Wir bieten dazu als Landesverbände des DAV, der VdF und des DSV gerne unsere Unterstützung an.

Wir hoffen sehr auf Ihr Verständnis und verbleiben

mit freundlichen Grüßen

für die Landesverbände

des DAV der VdF des DSV

Dr. Susanne Aretz                               Andreas Nieweler                               Thomas Döring

Dr. Matthias Laarmann                       Ulrike C. Lange                                   Cornelia Walter

Maximilian Nießen

 


 

Außerdem möchte ich auf einen wichtigen Passus auf der Homepage des Schulministeriums aufmerksam machen:

Quelle: https://www.schulministerium.nrw/themen/schulsystem/angepasster-schulbetrieb-corona-zeiten

Punkt: Präsenzunterricht und Klassenteilung

Nur durch Zufall hat der Deutsche Altphilologenverband Nordrhein-Westfalen (DAV NRW) von einer geplanten Änderung der Lehramtszugangsverordnung[1] (LZV) erfahren, die Auswirkungen auf die von der Kultusministerkonferenz (KMK)[2] vereinbarten Qualitätsstandards Latinum und Graecum haben kann.

Nachdem in der LZV 2016 bereits z. B. das Fach Geschichte nur mit Kenntnissen in Latein „auf dem Niveau eines Kleinen Latinums“ studiert werden konnte, soll dies in dem Entwurf der neuen LZV auch für die Fächer Katholische und Evangelische Religionslehre eingeführt werden. In der Begründung heißt es, dass damit „Anregungen der Kirchen“ aufgegriffen würden, ein Autor oder eine Organisation werden dort aber nicht konkret genannt.

Der DAV NRW möchte nicht über Anforderungen anderer Fächer sprechen, aber doch fragen, warum ein bundesweiter Standard wie das Latinum nach und nach aufgegeben wird und stattdessen lediglich Kenntnisse auf dem Niveau des Kleinen Latinums verlangt werden.

Was ist denn mit „Kenntnissen auf dem Niveau des Kleinen Latinums“ gemeint? Während das Latinum den von der KMK definierten Qualitätsstandard Latinum bundesweit sichert (vgl. Fußnote 2), bedeutet bereits das Kleine Latinum eine landesinterne, allerdings durch Kriterien definierte Relativierung[3]. Für „Kenntnisse auf dem Niveau des Kleinen Latinums“ liegen bisher keine messbaren und vergleichbaren Kriterien vor (vgl. Fußnote 1, Begründung). Der DAV NRW befürchtet daher eine deutliche Absenkung der Standards 

Hieß es in der früheren LZV noch an vielen Stellen „Kenntnisse in Latein (Latinum)“ oder „Kenntnisse in Griechisch (Graecum)“ wird jetzt mit der Formulierung „Kenntnisse im Niveau von“ operiert und damit die Zuständigkeit der Überprüfung dieser Kenntnisse in die Hand der einzelnen Universitäten gelegt.

Wenn die einzelnen Universitäten die Kenntnisse nachweisen sollen, dann ist damit der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet und eine Abwanderung von Studierenden zu den scheinbar leichteren Universitäten, die die geringsten „Kenntnisse“ auf der nach unten hin offenen „Kenntnisskala“ verlangen, vorgezeichnet.

Zudem möchte der DAV NRW darauf aufmerksam machen, dass bei der Formulierung der Sprachkenntnisse im Fach Ev. Religionslehre - vielleicht unabsichtlich – die Konjunktion „sowie“ zwischen der Sprache Griechisch und den beiden anderen Sprachen ausgelassen wurde („im Fach Evangelische Religionslehre auf Kenntnissen in Griechisch auf dem Niveau des Graecums, auf Kenntnissen in Hebräisch auf dem Niveau des Hebraicums oder auf Kenntnissen in Latein auf dem Niveau eines Kleinen Latinums“). Dadurch müssten die Studierenden nur noch „Kenntnisse im Niveau von“ einer antiken Sprache nachweisen statt auf jeden Fall in Griechisch und einer der anderen beiden Sprachen.

Wir warnen eindringlich davor, die Standards zu senken, und appellieren noch einmal an die für den Entwurf der LZV Verantwortlichen, die Änderungen im §11 zu überdenken oder – auch gerne mit unserer Hilfe - zumindest für landesweite Standards zu sorgen.

Dr. Susanne Aretz für den DAV NRW


[1] die LZV, Stand April 2016: §11 Nachweis fremdsprachlicher Kenntnisse

(2) Die erforderlichen fachwissenschaftlichen Kompetenzen für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen beruhen in bestimmten Fächern auf weiter gehenden Sprachkenntnissen entsprechend der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe vom 5. Oktober 1998 (GV. NRW. S. 594) in der jeweils geltenden Fassung: 1. im Fach Katholische Religionslehre auf Kenntnissen in Latein (Latinum), im Fach Philosophie/Praktische Philosophie auf Kenntnissen in Latein auf dem Niveau eines Kleinen Latinums oder auf Kenntnissen in Griechisch (Graecum), 2. in den Fächern Latein und Griechisch auf Kenntnissen in Latein und Griechisch (Latinum und Graecum), 3. im Fach Evangelische Religionslehre auf Kenntnissen in Griechisch (Graecum) sowie auf Kenntnissen in Latein oder Hebräisch (Latinum oder Hebraicum) und 4. im Fach Geschichte auf Kenntnissen in Latein auf dem Niveau eines Kleinen Latinums. Die erforderlichen fachwissenschaftlichen Kompetenzen für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen beruhen im Fach Katholische Religionslehre neben dem Latinum auf Grundkenntnissen in Griechisch und Hebräisch, im Fach Islamische Religionslehre auf Kenntnissen des Arabischen. (3) Die Hochschulen können in ihren Ordnungen weitergehende Anforderungen stellen. (vgl. https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_id=15620&vd_back=N211&sg=0&menu=1)

Neu ist jetzt: 7. § 11 Absatz 2 wird wie folgt geändert:
a) Satz 1 wird wie folgt geändert:
aa) In Nummer 1 wird das Wort „(Latinum)“ durch die Wörter „auf dem Niveau eines Kleinen Latinums“ ersetzt.
bb) Nummer 3 wird wie folgt gefasst:
„3. im Fach Evangelische Religionslehre auf Kenntnissen in Griechisch auf dem Niveau des Graecums, auf Kenntnissen in Hebräisch auf dem Niveau des Hebraicums oder auf Kenntnissen in Latein auf dem Niveau eines Kleinen Latinums und“.
b) In Satz 2 werden die Wörter „dem Latinum“ durch die Wörter „den Kenntnissen in Latein nach Satz 1 Nummer 1“ ersetzt. (vgl. https://dvpb-nw.de/wp-content/uploads/2020/12/%C3%84nderungsentwurf-LZV.pdf)

Begründung: Zu 7 (§ 11 Absatz 2) Die Änderungen greifen Anregungen der Kirchen auf und ermöglicht (sic!) es, die Fächer Evangelische Religionslehre und Katholische Religionslehre künftig auch mit Lateinkenntnissen auf dem Niveau eines Kleinen Latinums zu studieren. Mit der Bezugnahme auf das „Niveau eines Kleinen Latinums“ werden die materiellen Anforderungen an die erforderlichen Lateinkenntnisse durch die Verordnung über die Bildungsgänge und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe vorgegeben und definiert, ohne dass formal ein Kleines Latinum erworben werden muss. Der Nachweis kann daher auch durch gleichwertige fachbezogene Prüfungsleistungen in Latein – beispielsweise auf der Grundlage von Lateinkursen der Universität – erbracht werden; gleiches gilt für die Kenntnisse in Griechisch und Hebräisch.

 

[3] BASS 19-33 Nr. 3 Ordnund der Erweiterungsprüfungen zum Abiturzeugnis in Lateinisch, Griechisch, Hebräisch (Latinum/Kleines Latinum/Graecum/Hebraicum), RdErl. d. Kultusministeriums v. 02.04.1985 (GABI. NW. S. 287, Pkt. 3.2)


Der neue Kernlehrplan für die Sekundarstufe I im Fach Griechisch steht vor der Herausforderung, auf der einen Seite den gewünschten und erforderlichen Anschluss an den vorhandenen Lehrplan der ‚Alten Sprachen‘, den KLP Latein, herzustellen, auf der anderen Seite aber die Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale des Fachs Griechisch deutlich zu kommunizieren. Dies gilt umso mehr, als ein Lehrplan nicht nur ein bloßes  Steuerungsinstrument für die Vermittlung der Inhalte und Kompetenzen, sondern auch für das Selbstverständnis des Fachs sein muss. Der DAV NRW vertritt nach intensiver Beschäftigung mit dem Entwurf des KLP für die Sek I und nach Konsultation mit mehreren Griechischlehrerinnen und -lehrern dezidiert die Auffassung, dass gewissermaßen das ‚Prepon‘ (das Angemessene) zwischen den beiden genannten Polen nicht erreicht ist: Alleinstellungsmerkmale und Besonderheiten des Griechischen werden im gegenwärtigen Entwurf nicht ausreichend sichtbar. Dieser Umstand ist für uns wirklich sehr schmerzlich, weil dieser Anspruch in dem Lehrplan für die Sek I von 1993 sehr gut eingelöst worden war und selbst der gegenwärtige KLP für die Sek II das Fach wesentlich geschickter begründet.

Die Aufgaben und Ziele des Faches müssen die Selbstständigkeit des Faches gerade auch im Unterschied zum Lateinischen ausschärfen. Selbst wenn die historische Kommunikation und die Sprachbildung in beiden Fächern Leitziele sind, so müssen in diesen beiden Leitzielen die Unterschiede zum Fach Latein herausgearbeitet werden. Eine Neuformulierung des Entwurfs des KLP Sek I Griechisch ist dazu nicht nötig, wohl aber sind in unseren Augen einige wenige Ergänzungen, Neuakzentuierungen und Ausschärfungen unerlässlich. Konkrete Vorschläge hierzu möchten wir im Folgenden unterbreiten.


„Die soziologische Untersuchung, „Des Kaisers alte Kleider...“ zum angeblich fehlenden Nutzen der Alten Sprachen, insbesondere des Lateinischen, hat ein erstaunliches mediales Echo hervorgerufen. Dass die Untersuchung methodisch wie inhaltlich fragwürdig ist, ergibt sich aus der Stellungnahme der Humboldt - Universität, die wir hier im Wortlaut wiedergeben. Die Kurz- sowie die Langfassung der Stellungnahme finden Sie auch hier:

Prof. Dr. Stefan Kipf, Dr. Andrea Beyer, Ann-Catherine Liebsch:

Fiktionalität in der Wissenschaft – Analyse einer Studie

Die Publikation „Des Kaisers alte Kleider: Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen“, die in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 71 (2) 2019, 309-326 erschienen ist und erstaunlicherweise ein beachtliches mediales Echo ausgelöst hat, beschäftigt sich mit den Transfereffekten, die Eltern dem Lateinunterricht in Zeiten der Globalisierung zuschreiben.

Falsche Zahlen als Grundlage

Der Studie liegt die Feststellung zugrunde, dass „[o]bwohl Latein eine nicht mehr gesprochene Sprache ist und ihr deswegen kein kommunikativer Nutzen zukommt, […] die Anzahl der Latein als Schulfach wählenden Schüler im Zeitverlauf angestiegen“ sei (309). Auf dieser Aussage basiert auch das übergeordnete, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt „Die Wahl von Latein und Altgriechisch als schulische Fremdsprachen: Eine Distinktionsstrategie der oberen sozialen Klassen?“1, das an der Freien Universität Berlin angesiedelt ist, aber im Beitrag nicht explizit genannt wird. Doch wie kommen die Forscher zu der Angabe, dass sich der Anteil Latein lernender Schüler an Gymnasien von im Jahr 1999 ca. 26% auf ca. 31% im Jahr 2017 leicht erhöht habe (311) oder der Anteil der Alt-Griechisch lernenden Schüler über diesen Zeitraum bei 0,5 % stagniere (Fußnote 1, 312)? Im Gegensatz zu dieser Darstellung beklagen die Vertreter dieser Fächer seit dem Schuljahr 2008/09 einen kontinuierlichen Rückgang der absoluten und relativen Schülerzahlen (Behrendt & Korn 2016), wobei der Anteil der Lateinschüler an den Gymnasien zuletzt (Schuljahr 2016/17) bei 26,12% lag (Beyer et al. 2017, 13). Die absoluten Zahlen auch aus dem folgenden Schuljahr (611.507 im Jahr 2017/18 zu 632.056 im Jahr 2016/17)2 bestätigen diesen anhaltenden Trend. Eine ohne Aufwand falsifizierbare Aussage legitimiert also ein breitangelegtes Forschungsvorhaben!


(I) Allgemeines

Das Leitziel des Lateinunterrichts ist die Befähigung zur historischen Kommunikation. Im Zentrum stehen lateinische Originaltexte -> Texterschließung ist die Voraussetzung durch mikroskopische Textarbeit (Lesen und Verstehen). Beim Übersetzen geht es darum, den Text vollständig, zielsprachenorientiert und unter Berücksichtigung des historischen Kontextes sowie der Intention des Autors im Deutschen wiederzugeben, es geht hierbei also nicht um eine Paraphrase (den Textinhalt mit eigenen Worten unter Wahrung der Informationsreihenfolge wiedergeben: vgl. Operatoren).

Vergleich Bewertung Latein – moderne Fremdsprachen

  • Moderne Fremdsprachen: inhaltliche Leistung – sprachliche Leistung bzw. Darstellungsleistung im Verhältnis 40:60 -> festgelegt
  • der Ansatz, die inhaltlich-sprachliche Textkompetenz im Fach Latein angemessen zu berücksichtigen, ist sinnvoll und nachvollziehbar
  • entscheidend ist jedoch, wie das konkret gelingt.

Bezüge zu den aktuell gültigen KLP Sek. I/II

  1. Vgl. KLP Sek. I S. 66, Sek. II S. 44 „Der Grad der Übersetzungskompetenz zeigt sich am nachgewiesenen inhaltlich-sprachlichen Textverständnis.“
  2. Vgl. KLP Sek. I S. 66 „Bei der Korrektur ist die Fehlerzahl dafür ein wichtiger Indikator. I.d.R. kann die Übersetzungsleistung dann ausreichend genannt werden, wenn sie auf je 100 Wörter nicht mehr als 12 ganze Fehler enthält.“
  3. Vgl. KLP Sek. II S. 44 „Zur Ermittlung der Übersetzungskompetenz sind sowohl besonders gelungene Lösungen zu würdigen als auch Verstöße und Grad der Sinnentstellung festzustellen.“
  4. Vgl. KLP Sek. II S. 44 „Die Note ausreichend (05 Punkte) wird erteilt, wenn der vorgelegte Text in seinem Gesamtsinn und seiner Gesamtstruktur noch verstanden ist. Davon kann i.d.R. nicht mehr ausgegangen werden, wenn die Übersetzung auf je hundert Wörter des lateinischen Textes mehr als 10 Fehler aufweist.“

(II) Duisburger Modell

Das Duisburger Modell wurde vom Duisburger Arbeitskreis aus Marina Keip, Thomas Doepner, Stephanie Kurczyk und Godehard Hesse entwickelt und nach einer Vorstellungsrunde in Gegenwart des Fachdezernenten Dr. Wilfried Bentgens, der es unterstützt, im AU 4+5/17 publiziert. („Würdigung und Sinnverständnis – Kompetenzorientierte Übersetzungsbewertung nach dem Duisburger Modell“, S. 60-69). Der Teilnehmerkreis der Vorstellungsrunde wird in Anm. 11, S.67, vorgestellt.

Bislang ist das Modell noch nicht verbindlich.

Folgende Überlegungen haben die Erarbeitung geleitet:

  • die Festlegung einer Übersetzungsleistung, die dem Vermögen von Schülern angemessen ist und Erkenntnisse der Übersetzungswissenschaft aufnimmt,
  • der Vorrang des Textverständnisses vor der Summe der sprachlichen Verstöße,
  • die stärkere Einbeziehung gelungener Passagen in die Urteilsfindung.
  • Schritt 1 „Textverständnis ABC“

Modell: Es ist grundsätzlich sinnvoll, zunächst den Grad des Textverständnisses einzustufen:

  1. A: Textsinn vollständig oder überwiegend vollständig erfasst
  2. B: Textverständnis im Allgemeinen vorhanden, aber mit Einschränkungen
  3. C: Textsinn nicht erfasst

Entscheidend ist in diesem Kontext, einen entsprechenden Erwartungshorizont zu konzipieren, der deutlich abstuft zwischen einem fundiertem Textverständnis (vgl. A), einem allgemeinen Verständnis (vgl. B) und ab wann der Textsinn in seinem Gesamtsinn nicht mehr erfasst ist (vgl. C). In diesem Kontext sind die von Klaus Brinker genannten Faktoren Kohärenz, kommunikative Funktion und thematische Progression zentral.

  • Schritt 2/3 „Kontrolle der inhaltlich-sprachlichen Textkompetenz/ Analyse fehlerhafter Lösungen: Erst-, Folge-, Wiederholungsfehler“

Da das Textverständnis zentral ist, steht bei der Fehlergewichtung der Grad der Sinnverfehlung im Vordergrund (vgl. Bezüge KLP 1./2./3.).

In den aktuellen KLP gibt es im Gegensatz zu den Lehrplänen Sek. I von 1993 und Sek. II von 1999 weder eine klare Fehlerdefinition noch eine maximale Fehlergrenze bei Fehlernestern. Daraus resultiert, dass eine einheitliche Fehlerbewertung eine Herausforderung darstellt. Erfreulich ist daher die Tendenz, eine klare Gewichtung vorzugeben.

Der Duisburger Arbeitskreis geht davon aus, dass eine maximale Fehlerzahl festzulegen ist, die sich an der Textlänge orientiert. Da in den Kernlehrplänen 12 bzw. 10 Fehler auf 100 Wörtern für die Note „ausreichend“ festgeschrieben sind, setzt der Arbeitskreis die maximale Fehlerzahl, mit der die Note „ungenügend“ abgedeckt ist, auf eine ca. doppelte Fehlerzahl (also 20 – 24 Fehler) fest. Von diesen Werten ausgehend, werden die übrigen Noten den Fehlerzahlen zugeordnet.

Im Erwartungshorizont sollen konkrete Messeinheiten festgelegt werden, deren Größe so festzulegen ist, dass eine Messeinheit sinntragend ist. Summiert man die einzelnen Messeinheiten, denen konkrete Fehlergewichtungen zugewiesen sind, ergibt sich eine maximale Gesamtfehlerzahl.

Sinnvoll ist es nach eigenen Erfahrungen, aber auch nach der Aussage der Autoren (S. 63), dass die Satzgrenze Maßstab für diese Messeinheiten sind; bei komplexen Sätzen möglicherweise auch längere Kola.

Wird ein wie in M 1 vorgeschlagener Erwartungshorizont in jedem Fall verbindlich gemacht, ergibt sich für jeden Fachlehrer allerdings Mehrarbeit. (vgl. M 1, S. 67 f.) Daher spricht sich der Vorstand dafür aus, die Art der Vorbereitung der Korrektur dem Fachlehrer zu überlassen.

  • Schritt 4 „Fehlerbewertung“

Der Arbeitskreis schlägt vor, die Einteilung in Verstehenskategorien (Textverständnis ABC) vor der Detailkorrektur vorzunehmen. Damit soll wohl der Möglichkeit vorgebeugt werden, dass die Note allein nach der ermittelten Fehlerzahl festgelegt wird. Die bisherigen Lehrpläne gingen jedoch davon aus, dass Fehlerzahl und Verstoß gegen das Textverständnis weitgehend kongruent sind, was durch die Erfahrung auch bestätigt werden kann; auch die Kernlehrpläne setzen das voraus.

Der Arbeitskreis legt für die Detailkorrektur, ohne nähere Begründung, fest: „Wichtig ist, dass nur ein ganzer Fehler auf ca. 5 Wörter vergeben wird.“(a.a.O. S. 63). Er geht dabei davon aus, dass nur noch halbe Fehler angerechnet werden können und es „bei einem kompetenzorientierten und auf das Textverständnis ausgerichteten Bewertung … keine Einteilung der Fehler in verschiedene Wertungsklassen <gibt>“ (a.a.O., S. 64). Die Meinung des Vorstands dazu lautet: Diese beiden Setzungen sind nicht in den KLP verankert. Sie werden vom Arbeitskreis auch nur mit der „Erreichbarkeit“ der Note 4 gerechtfertigt. Eine Korrektur, die den Nachweis bzw. das Fehlen von Kompetenzen bewertet, muss bei Verstößen über das Instrument abgestufter Gewichtungen verfügen und es auch anwenden dürfen. Sonst wird der Grundgedanke jeder Korrektur ad absurdum geführt, dass der Schüler das Ausmaß seines jeweiligen Verstoßes erfahren muss und dass zu viele Verstöße eine ausreichende Leistung verhindern.

Wenn der Grad der Sinnverfehlung bei der Fehlergewichtung im Fokus steht, bedeutet dies gleichfalls, dass nicht jeder Fehler gleich gewichtet werden kann. Da das Ziel eine Übersetzung, keine Paraphrase ist (vgl. mikroskopische Textarbeit), müssen innerhalb einer Messeinheit Verstöße im Bereich Formenlehre, Vokabular, Syntax bei der Fehlerbewertung nach Grad der Sinnentstellung berücksichtigt werden. Dies geht eindeutig auch aus den Kompetenzbeschreibungen hervor. Der Satz „eine lernzieltaxonomische Hierarchisierung von Fehlern <sei> nicht mehr möglich“ (S.64) ist daher unverständlich.

Es ist selbstverständlich, dass man den Schwierigkeitsgrad der Klassenarbeit so auswählt, dass der Großteil der Schüler die Klassenarbeit dem Fehlerquotient entsprechend bewältigen kann. Das Ziel der Fachkollegen ist es, insgesamt gute Ergebnisse in Klassenarbeiten zu erzielen, um die lateinische Sprache weiter zu fördern, und nicht mit schlechten Ergebnissen ein Exempel zu statuieren.

Des Weiteren sollten in der Lehrbuchphase die aktuellen Schwerpunkte der Grammatik, die in der entsprechenden Klassenarbeit abgefragt werden, stärker gewichtet werden, um auf die Lektüre von Originaltexten adäquat vorzubereiten.

Nach der Vorstellung des Arbeitskreises muss bei Fehlernestern die Fehlerursache, d.h. der Primärfehler, ermittelt werden. Verstöße, die deutlich aus bereits bewerteten Fehlern herleitbar sind, erfahren keine Gewichtung. Aber es kann nicht sein, dass bei fünf lateinischen Wörtern grundsätzlich nicht mehr als ein Fehler angerechnet werden darf.

Übersetzungen, die gegen die sprachliche Norm der deutschen Sprache verstoßen, werden nur dann als Fehler gewertet, wenn sie die Verständlichkeit der Übersetzung beeinträchtigen (vgl. Grad der Sinnentstellung). Andernfalls sind sie zu kennzeichnen und bei der Festsetzung der Notenstufe angemessen zu berücksichtigen. Da im Lateinunterricht gerade der sprachliche Ausdruck trainiert werden soll, muss dieser in der Gesamtbewertung auch angemessen berücksichtigt werden.

  • Schritt 5 „Würdigung besonders gelungener Lösungen und Benotung“

Die Würdigung besonders gelungener Lösungen ist bei Originaltexten sinnvoll, bei denen Wendungen nicht 1:1 von der einen in die andere Sprache übertragen werden können (vgl. Bezüge KLP 3.). In der Lehrbuchphase, d.h. im Spracherwerbsprozess, ist dieser Fall die Ausnahme, da Lehrbuchtexte entsprechend konzipiert sind -> eine Differenzierung zwischen Lehrbuch– und Originaltexten ist bei Schritt 5 unumgänglich. Der KLP Sek. I enthält aktuell auch keinen Hinweis auf die Würdigung besonders gelungener Textstellen.

Fazit

Das Duisburger Modell zeigt einen Ansatz auf, wie zwei unterschiedliche Messverfahren in Einklang gebracht werden können, um das inhaltlich-sprachliche Textverständnis zu bewerten. Die im AU-Artikel geäußerten Bedenken bzgl. einer einheitlichen Fehlerbewertung und einer Vernachlässigung der sprachlichen Dimension im Hinblick auf fundiertes Textverständnis durch mikroskopische Textarbeit sind nachvollziehbar. Daher muss das Duisburger Modell in der Praxis modifiziert bzw. weiter ausdifferenziert werden. Wünschenswert ist, dass die neuen KLP klare Rahmenbedingungen schaffen, um eine einheitliche Bewertung der Übersetzungsleistung zu gewährleisten.

Grundsätzlich wird die Entwicklung des Duisburger Modells vom DAV begrüßt. Es ist erforderlich, die infolge allgemeinpädagogisch-politischer Erwägungen erzeugte Leerstelle in den bisherigen Kernlehrplänen in einer Weise zu füllen, die der Kompetenzorientierung nicht entgegensteht. Das ist dem Arbeitskreis ohne Zweifel gelungen. Die obligatorische Berücksichtigung des Textverständnisses insgesamt bei der Bewertung ist ebenso hervorzuheben wie die Überlegungen, auf welche Weise besonders gelungene Wiedergaben im Deutschen angemessen in die Bewertung einfließen können. Auch die konkreten Anweisungen für die Detailkorrektur sind grundsätzlich für den Fachlehrer hilfreich und leicht anzuwenden.

Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Mehrbelastung der Fachlehrer durch ein schematisches Verfahren zur Ermittlung des Inhaltsverständnisses, das wesentlich weniger aufwändig gemessen werden kann, sowie gegen pauschale Festlegungen, bei denen der Wunsch, die Fehlerzahlen in Klassenarbeiten zu senken, der Vater des Gedankens zu sein scheint. Es ist zweifellos erforderlich, Korrekturverfahren immer wieder daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Leistungsvermögen von Schülern noch gerecht werden. Auf der anderen Seite stellt der Unterricht der lateinischen (und griechischen) Sprache nun einmal einen hohen Anspruch, der in Klassenarbeiten und Klausuren auch eingelöst werden muss. Dieser Anspruch zielt auf die Befähigung zur historischen Kommunikation mit den lateinischen bzw. griechischen Texten als Richtziel des Altsprachlichen Unterrichts. Darüber hinaus ist das Ziel die Befähigung zu differenziertem Umgang mit und Gebrauch von Sprache als Grundqualifikation eines Gymnasialschülers überhaupt, also das, was derzeit als „sprachsensibler Fachunterricht“ unterwegs ist. Dazu können gerade die Alten Sprachen einen gar nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag leisten, sofern auch bei Leistungsüberprüfungen der Anspruch auf sprachliche Genauigkeit aufrecht erhalten wird.

Yvonne Staier, Dr. Nikolaus Mantel (für den Vorstand des DAV)