Der neue Kernlehrplan für die Sekundarstufe I im Fach Griechisch steht vor der Herausforderung, auf der einen Seite den gewünschten und erforderlichen Anschluss an den vorhandenen Lehrplan der ‚Alten Sprachen‘, den KLP Latein, herzustellen, auf der anderen Seite aber die Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale des Fachs Griechisch deutlich zu kommunizieren. Dies gilt umso mehr, als ein Lehrplan nicht nur ein bloßes  Steuerungsinstrument für die Vermittlung der Inhalte und Kompetenzen, sondern auch für das Selbstverständnis des Fachs sein muss. Der DAV NRW vertritt nach intensiver Beschäftigung mit dem Entwurf des KLP für die Sek I und nach Konsultation mit mehreren Griechischlehrerinnen und -lehrern dezidiert die Auffassung, dass gewissermaßen das ‚Prepon‘ (das Angemessene) zwischen den beiden genannten Polen nicht erreicht ist: Alleinstellungsmerkmale und Besonderheiten des Griechischen werden im gegenwärtigen Entwurf nicht ausreichend sichtbar. Dieser Umstand ist für uns wirklich sehr schmerzlich, weil dieser Anspruch in dem Lehrplan für die Sek I von 1993 sehr gut eingelöst worden war und selbst der gegenwärtige KLP für die Sek II das Fach wesentlich geschickter begründet.

Die Aufgaben und Ziele des Faches müssen die Selbstständigkeit des Faches gerade auch im Unterschied zum Lateinischen ausschärfen. Selbst wenn die historische Kommunikation und die Sprachbildung in beiden Fächern Leitziele sind, so müssen in diesen beiden Leitzielen die Unterschiede zum Fach Latein herausgearbeitet werden. Eine Neuformulierung des Entwurfs des KLP Sek I Griechisch ist dazu nicht nötig, wohl aber sind in unseren Augen einige wenige Ergänzungen, Neuakzentuierungen und Ausschärfungen unerlässlich. Konkrete Vorschläge hierzu möchten wir im Folgenden unterbreiten.

1.     Ausschärfen des Profils des Faches 

Im gegenwärtigen Entwurf des KLP halten wir es für wenig angemessen, mit der Feststellung zu beginnen, dass Griechisch einmal Weltsprache war und dass von den Römern vieles übernommen wurde. Auch Chinesisch war im weitesten Sinne eine Weltsprache, und Latein war deutlich länger Weltsprache als Griechisch. Und wenn von den Römern vieles übernommen wurde, warum genügt es dann nicht, römische Literatur zu lesen? Auch die nachfolgenden Punkte (Tradition und Rezeption von drei Jahrtausenden, Fremdwörter im Deutschen, Wirkung in den Fachwissenschaften) sollten nach den allgemeinen Leitzielen ausgeführt werden.

Konkret fordern wir, den ersten Abschnitt zu streichen, mit den beiden Leitzielen des altsprachlichen Unterrichts zu beginnen und die Verknüpfung dieser Ziele bzw. die Leistung des Faches Griechisch dort deutlich zu machen.

Historische Kommunikation und Sprachbildung sind die beiden Leitziele des altsprachlichen Unterrichts.

Historische Kommunikation im Griechischen besteht darin, sich mit den existentiellen Themen der Grundlagentexte Europas auseinander zu setzen und einen persönlichen Standpunkt für die Gegenwart und Zukunft zu entwickeln.

Diese Auseinandersetzung gelingt vor allem aufgrund der Originalität, der Aktualität und Bedeutung der griechischen Literatur und des griechischen Mythos für alle nachfolgenden Zeiten, aber auch weil die Sprache durch z.B. ihren Partikel-, Modus- und Diathesenreichtum verschiedene Perspektiven ein und derselben Sache ermöglicht und komplexe Sachverhalte individuell differenziert ausdrücken kann. Diese Mannigfaltigkeit der Lexik, der Morphologie und Syntax und ihr bewusster Einsatz war ein – auch für lateinische Autoren – bewundernswertes Mittel zur nuancierten Welterfassung. Hierin zeigt sich der fachspezifische Beitrag zur Sprachbildung.

 

Im Unterschied zum Lateinischen ist das Fremde aufgrund der Flexibilität und Diskursivität der Sprache und des Denkens immer auch zugleich sehr nah:

Das genuin griechische Genus ist das Drama, der genuin griechische Ausdruck ist der Dialog, das genuin griechische Denken ist die Antithese, das einerseits-andererseits, das sowohl-als auch!

Die nachfolgenden Abschnitte auf S. 7 zur „historischen Kommunikation“ sind fast alle aus dem Latein KLP Sek I übernommen (Ausn.: „Der Unterricht im Fach Griechisch ... der politischen Theorie kennen.“). Sie treffen zwar unseres Erachtens weitaus deutlicher auf das Griechische zu, machen aber keinen Unterschied zum Lateinischen. Zur Ausschärfung muss man auf die Reichhaltigkeit und die Prototypen der Literaturgattungen eingehen, auf die Bedeutung des griechischen Mythos, auf die Denkmodelle, die die Griechen mit ihren radikalen und existentiellen Fragestellungen und ihrer unüberholbaren Aktualität anbieten.

Außerdem fehlt die 3000jährige Kontinuität der ältesten Kultursprache Europas und das Prägen der Terminologie in allen Sprachen.

Im Folgenden möchten wir weitere Formulierungsvorschläge unterbreiten, um zu verdeutlichen, wie die fachspezifische Besonderheit des Griechischen unserer Meinung nach herausgearbeitet werden könnte. Dabei ist der KLP-Entwurfstext (tw. in verändertert Reihenfolge) kursiv geschrieben, unsere Vorschläge sind kursiv und fett:

Durch die historische Kommunikation erhalten die Schülerinnen und Schüler Hilfe zur persönlichen Orientierung und Selbstbestimmung in der komplexen modernen Welt. Zugleich entdecken sie die griechische Antike als Grundlage der europäischen Kultur. Damit fördert der Griechischunterricht ihre kulturellen und interkulturellen Kompetenzen.

Die griechische Literatur ist die älteste und reichste unter den Literaturen. Fast alle Literaturgattungen nehmen dort ihren Anfang oder haben dort ihren ersten Höhepunkt im europäischen Kulturkreis: Epos, Lyrik, Drama, Geschichtsschreibung, Philosophie, wissenschaftliche Prosa, Roman, etc. Neben den großen Themen der Weltliteratur lernen die Schülerinnen und Schüler den griechischen Mythos und die Leistungen der Griechen in vielen Einzelwissenschaften kennen, u.a. in der Politik das Prinzip der Demokratie, in der Philosophie die Auseinandersetzung zunächst mit der Natur und dann mit dem Menschen, außerdem die griechischen Errungenschaften in der Mathematik, der Medizin, der bildenden Kunst und der Geschichte.

Die griechische Kultur weist eine Tradition und Rezeption von über drei Jahrtausenden auf. Bedeutende Bereiche unserer Gegenwartskultur sind spürbar griechisch beeinflusst. Die griechische Sprache hat die wissenschaftliche, technische und künstlerische Terminologie    im Deutschen und in anderen Sprachen mitgeprägt. Gleichzeitig gehört sie mit einer 3000- jährigen Kontinuität zu den ältesten Kultursprachen. 

Das Fach Griechisch ermöglicht vertiefte Einsichten in das antike Weltbild und damit in geistesgeschichtliche, historische und sprachliche Prägungen des modernen Europa. Griechische Texte eröffnen den Zugang zu einer in der Vergangenheit liegenden und in der Gegenwart wirksamen Welt. Die griechischen Texte bieten den Schülerinnen und Schülern eine intensive Auseinandersetzung mit radikalen Grundfragen menschlicher Existenz und gleichzeitig unüberholbar aktuelle Antwortmöglichkeiten. Sie haben grundlegende Bedeutung für die europäische Geisteswelt und sind angesichts  eines  enger  zusammenwachsenden  Europas von ungebrochener Aktualität. (Im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdheit, Kontinuität und Wandel sehen sich die Schülerinnen und Schüler mit Grundfragen und Konstanten menschlicher Existenz konfrontiert und gewinnen daraus wertvolle Einsichten und Perspektiven für ihr eigenes Leben.)

Mithilfe kognitiver... Geistes- und Kulturgeschichte.

Im Bereich der Sprachbildung fällt ebenfalls auf, dass die Formulierungen im Grunde ebenfalls vom KLP Latein Sek I übernommen worden ist. Man sollte aber auch hier das spezifisch Griechische in den Blick nehmen. Hier ebenfalls ein Formulierungsvorschlag. Der folgende Abschnitt könnte unten auf S. 8 eingefügt werden nach „............................... in die deutsche Sprache heraus.“)

Durch den bestimmten Artikel, die verschiedenen Partikeln (insbesondere μέν – δέ) und den Diathesen- und Modusgebrauch, durch die Verbalaspekte und den Partizipienreichtum können die Griechen komplexe Sachverhalte ausformulieren, die individuelle Aussageabsicht differenzieren und ihr antithetisches Denken im Dialog, also die unterschiedlichen Perspektiven zu den existentiellen Fragestellungen genauestens zum Ausdruck bringen.

2. Fachspezifische Ausgestaltung der Querschnittsaufgaben

Gerade zu den auf S. 9 genannten Querschnittsaufgaben kann das Fach Griechisch einen unschätzbaren Beitrag leisten, den man – wie auch im KLP für die Sek II – durchaus beispielhaft

z.B. auf S. 9 oder auf S. 14 ausformulieren kann. Gerade hier kann das Fach zeigen, dass ihm für die Herausforderungen der Gegenwart ein hoher Stellenwert zukommt. Im Detail schlagen wir folgende Ergänzungen vor:

Zu a) Menschenrechtsbildung: Rechtskulturen in der shame und guilt culture oder das Verhältnis von Macht und Recht im Mythos, der Philosophie und im politischen Leben der griechischen Polis.

Zu b) Werteerziehung: Das Begründen und Diskutieren von Werten bei den griechischen Philosophen, Historikern, Dramatikern.

Zu c) Politische Bildung: Der Mensch ist ein ZOON POLITIKON und deshalb ist Erziehung Sache der Polis. Athen als Experimentierfeld der Demokratie und zentrales Paradigma staatstheoretischer Beschreibung.

Zu d) Bildung für die digitale Welt: Visualisierung von Texterschließungsmethoden, kollaboratives Arbeiten, Recherche, Erstellen digitaler Rezeptionsdokumente.

Zu e) Bildung für nachhaltige Entwicklung: 1. Stasimon der Antigone und Hans Jonas‘ Rezeption in

„Das Prinzip Verantwortung“

Zu f) geschlechtersensible Bildung: alle Tragödien des Euripides, Sappho

Zu g) kulturelle und interkulturelle Bildung: s.o. Aufgaben und Ziele des Faches

3. Wortschatz und Grammatik

Unter dem ausformulierten „Inhaltsfeld 3: Sprachsystem“ ist ein in unseren Augen deutlich zu großer Wortschatz angegeben. Nach der Befragung mehrerer Kolleginnen und Kollegen kommen wir zu dem Schluss, dass anstelle der momentan 800 bis 900 geforderten Wörter besser 600-700 Wörter gefordert werden sollten.

Im „Inhaltsfeld 1“ auf S. 18 ist unserer Meinung nach zu oft vom Christentum die Rede. Man sollte entweder unter „Mythos und Religion“ auf philosophische Götterkritik oder Ansichten in

anderen Religionen abheben und unter Rezeption zwar NT stehen lassen, aber das „frühe Christentum“ streichen. Dies gilt auch für S. 14 „sowie für das frühe Christentum“, da hier stärker als bei den anderen Themen auf eine Religionsgemeinschaft konkretisiert und fokussiert wird. Alle Themen können auch anhand der Schriften des frühen Christentums behandelt werden, ohne dass dies gesondert festgeschrieben werden muss. Sonst bleibt die Frage, warum man die griechische Spätantike und die Byzantinistik als nicht relevant für Europa ausschließt.

Unter dem „Inhaltsfeld 3: Sprachsystem“ auf S. 20 sollte nicht einfach von den Verba auf

-μι die Rede sein, sondern explizit nur von εἰμί und οἶδα.

Auch die Konditionalsätze erscheinen uns als ein zu hehres Ziel.

4. Leistungsüberprüfung und wirkungsgerechte Übersetzung

Bei der Leistungsüberprüfung auf Seite 23 ist von einem „unbekannten Text“ die Rede. Gemeint sein kann eigentlich nur, dass dieser in seiner Textgestalt zwar unbekannt, aber gleichwohl einen bekannten Inhalt haben sollte. Dies sollte explizit formuliert werden.

Unter den möglichen Überprüfungsformen auf S. 25 ist von der „wirkungsgerechten Übersetzung“ die Rede. Wir sind der Meinung, dass hier noch deutlicher die Beispielhaftigkeit dieser möglichen Überprüfungsform vor Augen gestellt werden sollte, weil die

„wirkungsgerechte Übersetzung“ ein sehr anspruchsvolles Ziel darstellt.

5. Fazit

Alles in allem hat die Lehrplankommission eine solide Vorlage erarbeitet, doch wäre es schade, wenn diesem Kernlehrplan durch einen Verzicht auf eine schärfere fachspezifische Ausgestaltung das entscheidende Profil fehlte. Dieses deutlich sichtbar zu machen, fordern wir mit unserer Stellungnahme entschieden ein. Zudem bitten wir um Berücksichtigung der unserer Meinung wichtigen weiteren Änderungen und Präzisierungen.

Verantwortlich: 

Dr. Susanne Aretz – Vorsitzende DAV NRW, Fachleiterin für Griechisch im ZfsL Bochum, Neues Gymnasium Bochum Dr. Otmar Kampert - Kommissionsvorsitzender für das Zentralabitur Griechisch, Gymnasium St. Christophorus, Werne Dr. Jochen Sauer, StR i.H. an der Universität Bielefeld

Geprüft von: 

Dieter Braun – Fachleiter für Griechisch im ZfsL Bonn, Beethoven-Gymnasium, Bonn

Jens Heße – Fachleiter für Griechisch im ZfsL Düsseldorf, Gymnasium Adolphinum ,Moers

Dr. Joachim Penzel –Dozent für Altgriechischkurse an der Ruhr-Universität-Bochum, Max-Planck-Gymnasium, Gelsenkirchen